Rede zur Podiumsdiskussion am 6. November 1989 im Kulturhaus Unterbreizbach, Dorothea Nennstiel
Liebe Unterbreizbacher,
Sein oder Nichtsein – das ist die Frage!
Diese Feststellung Hamlets, auf unseren Staat übertragen, hat uns heute zusammengeführt.
Seit die Todesgrenze in Ungarn und jetzt besonders auch in der CSSR, wie ein Geschwür an der alles erstickenden Zwangsjacke aufgebrochen ist, und das ständige Aussickern unseres Herzblutes, nämlich unserer jungen Generation, den Organismus unseres Staates unaufhaltsam dahinsiechen lässt, sind wir vor diese Frage gestellt, wenn wir diese lebensbedrohliche Situation nicht durch einen sofortigen Eingriff zu beherrschen versuchen.
Das inzwischen vorgeschlagene Reisegesetz hat den Strom nicht aufhalten können: Die Menschen erwarten keine erzwungenen einzelnen Zugeständnisse, sondern die uneingeschränkte Möglichkeit des Volkes die Regierungsform des Staates selbst zu bestimmen!
Wie konnte es soweit kommen?
Der nach dem verlorenen Kriege eingeschlagene Weg war sicher notwendig, zumal von der Siegermacht gefordert.
Doch was ist aus dem Ansatz eines sozialistischen Staates, in dem die Mehrzahl des Volkes, die Arbeiterklasse, wirksam vertreten ist als Gradmesser der sozialen Gerechtigkeit, geworden?
Was aus unserer Arbeiterpartei?
Die Regierung und ihre Partei/-en nutzten die zunehmende Selbstständigkeit keineswegs zur Sozialisierung, sondern zur Festigung ihrer eigenen Macht und eigener Vorteile, während das sogenannte Volk mehr und mehr zum willenlosen Befehlsempfänger degradiert wurde. Die Grundvoraussetzung der sozialistischen Staatspolitik, die Dialektik, wurde nicht nur unterdrückt, sondern jede unerwünschte andere Meinung grausam bestraft. Regierung und Regierungspartei haben den Sozialismus bewusst verraten.
Konnten erfahrene Kumpel den Rückbau der Sicherheitspfeiler stoppen?
Konnten sie das Bergmannsfest am eigenen Standort erhalten?
Konnten die Bauern ihrem Vieh den Wahnsinn der Offenställe ersparen?
Konnte man die Zwangsaussiedlungen verhindern?
Konnte man bei Verhafteten Aufenthaltsort und Grund der Verhaftung erfahren?
Zuletzt überhörte man sogar geflissentlich das warnende Signal des angeblichen Vorbildes, der Sowjet-Union, zur tatsächlichen Macht des Volkes zurückzukehren.
Durch die nun endlich offenen Diskussionen in der letzten Zeit weiß man auch warum:
Unaufzählbar die vielen aufgedeckten Verfehlungen und Privilegien unserer herrschenden Klasse.
Die Aufforderung: Arbeiten, arbeiten, arbeiten, – damit es UNS, nämlich dieser Klasse, besser geht, noch besser!, hat unsere Jugend offenbar satt. Sie will nicht mehr für den Luxus unserer selbsternannten Regierenden arbeiten, sondern fordert den gleichen Wohlstand und eine Regierung, die sie aus Politikern ihres Vertrauens selbst auswählen kann.
Ich fordere daher:
– sofortige Vorbereitung freier Wahlen zum frühst möglichen Zeitpunkt
– uneingeschränkte Reisefreiheit
– Fortfall der Grenzbeschränkungen
– tendenzfreie Bildungspolitik
– gerichtlichen Schuldbeweis oder Rehabilitierung mit Wiedergutmachung und Rückkehrmöglichkeit für die zwangsausgesiedelten Bürger
– Spitzen-Spezialbehandlung und Medikamente nicht mehr nur für Patienten des Regierungskrankenhauses
– Abschaffung von Privilegien
Nun möchte ich Sie zu Wort kommen lassen.
Mit großer Zivilcourage wurden schon vor uns viele konstruktive Diskussionen geführt. Lasst auch uns durch gute Vorschläge und kluges Handeln unser Land wieder für alle lebens- und liebenswert gestalten, die Volksweisheit befolgend:
Rechtssicherheit spart Staatssicherheit (C. Wolf)
Sowie
Wer den Kopf in den Sand steckt,
wird morgen mit den Zähnen knirschen.
Dorothea Nennstiel, geb. Deilmann, wurde am 14.05.1931 in Meiningen geboren. Nach dem Besuch der Schulen in Merkers, Vacha und Bad Salzungen schloss sie 1950 ihre Schulbildung mit dem Abitur ab. Sie blieb dann den Berufen der Eltern treu, der Vater war Arzt und die Mutter Lehrerin, und begann in Jena eine Ausbildung zur Krankenschwester. Schließlich folgte 1953 – 1955 das Studium in Germanistik/Pädagogik in Jena. Schon damals war Dorothea politisch aktiv und beteiligte sich am Protestzug gegen die Zwangsaussiedlung am 07.06.1953 in Dorndorf. Ihre noch immer glückliche Ehe mit Arno Nennsteil schlossen beide im Jahr 1955, in dem auch die 1. Gemeinsame Tochter Christiane geboren wurde. 1962 und `65 folgten die Geburten der Töchter Franziska und Antonia. Bis 1973 war Dorothea als Lehrerin an der POS in Unterbreizbach und bis 1990 als Sprechstundenschwester in Unterbreizbach tätig.
Ihre politische Tätigkeit begann 1961 als Abgeordnete der Gemeinde Unterbreizbach. Nach der 1. Bürgermeisterwahl nach der Wende 1990 war Dorothea 1. Beigeordnete der Gemeinde. 1994 folgten dann politische Ämter im Kreistag sowie verschiedener Ausschüsse.
Schon immer waren, und sind auch heute noch, Kultur und Familie ihre Herzensangelegenheit. Ob Gründung des Karnevalclub, Dorfklub, Bergmannsverein, AWO, Mitgliedschaft im Kulturbund und der Dorfsänger, „Roseneck-Singen“, Arbeitseinsätze, Podiumsdiskusionen und vieles mehr. So ziemlich alles in der Gemeinde Unterbreizbach trägt die Handschrift von Dorothea Nennstiel.
Dorotheas politischer Einsatz, vor allem zu Zeiten der SED-Regierung, war mutig und vorbildlich. Ihre großartigen Dienste, die sie für Demokratie und Gerechtigkeit erbracht hat, gingen weit über die Gemeindegrenze hinaus. Dafür möchten wir, der SPD Ortsverein Unterbreizbach, von ganzem Herzen danken. Die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes am Bande am 20.09.2010 spricht mehr als tausend Worte.
Die anschließende Chronik widmen wir Dorothea Nennstiel.
Dokumente zur Grenzöffnung
Gründung der SPD in Thüringen und Unterbreizbach
Unterstützung aus Haltern
Die 1. Wahlen nach der Wende
Und das gab es auch…